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Erfahrungsbericht: PJ-Tertial in der Hausarztpraxis Neustetten vom 20.05.2024 – 08.09.2024

Von Josef B. T. Tran


Josef Tran absolvierte sein PJ-Wahltertial in einer allgemeinmedizinischen Praxis. Zu den täglichen Aufgaben gehörte die selbstständige Versorgung eines breiten Patientenspektrums im eigenen Sprechstundenzimmer. Er findet: „Eine bessere Vorbereitung auf den Beruf als Arzt/Ärztin gibt es schlichtweg nicht!“


Wo will ich das Wahlfach meines Praktischen Jahres (PJ) absolvieren? Vor dieser Frage steht jede*r Student*in im Laufe des Medizinstudiums. Für mich war schon früh klar, dass der Lernerfolg in der Entscheidungsfindung oberste Priorität haben sollte – schließlich möchte ich in erster Linie ein Arzt werden, der die Versorgung seiner Patienten mit Verantwortung und fachlicher Exzellenz übernehmen kann. Und für einen herausragenden Lernerfolg braucht es vor allem drei Dinge im PJ: eine engagierte und enge Betreuung, die Möglichkeit zum selbstständigen Arbeiten und ein breites Spektrum an Patientenfällen, das es dem/der Studierenden ermöglicht, in kürzester Zeit ein Maximum an medizinischer Erfahrung zu sammeln. So war die Entscheidung schnell klar, dass ich mein Wahlfach-Tertial vom 20. Mai 2024 bis zum 08. September 2024 in einer allgemeinmedizinischen Praxis absolvieren würde.


Nach intensiver Recherche entschied ich mich fast zwei Jahre im Voraus für die Hausarztpraxis Neustetten (Dr. med. Ralph Ostertag, Karl Herrmann, Dr. med. Katharina Schmid) in der Nähe von Tübingen. Diese Vorlaufzeit zahlte sich aus, denn wie sich zeigte, war die Hausarztpraxis Neustetten nicht ohne Grund eine der beliebtesten Praxen unter den Medizinstudierenden der Region. In der Praxis sind aktuell zwei Fachärzte für Allgemeinmedizin, eine Fachärztin für Chirurgie und Allgemeinmedizin sowie ein Arzt in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin tätig. Seit über zwanzig Jahren bilden die hochmotivierten und unglaublich engagierten Lehrärzt*innen Famulanten, Blockpraktikanten, PJ-Studierende und Ärzt*innen in Weiterbildung mit einer konstanten 2:1- bis 4:1-Betreuung aus. Dabei bietet die Praxis mit einem Stamm von ca. 5000 Patient*innen mit einer Spanne von pädiatrischen Patient*innen bis hin zur Palliativversorgung das gesamte Spektrum der hausärztlichen Medizin. Hierzu gehören unter anderem die tägliche Akutsprechstunde, Laboruntersuchungen, Ultraschalldiagnostik, EKG, Spirometrie, Wundversorgung und kleine Chirurgie, präoperativen Untersuchungen, Impfungen und Impfberatung, psychosomatische Grundversorgung, geriatrische Betreuung, die Erstellung sozialmedizinischer Anträge, die Teilnahme an den Disease-Management-Programmen Diabetes mellitus Typ 2, KHK und Asthma/COPD, Vorsorgeuntersuchungen wie der Gesundheits-Check-up, Jugendschutzuntersuchungen, Krebsvorsorge beim Mann und Hautkrebsscreening sowie Leichenschauen. Des Weiteren betreut die Hausarztpraxis Neustetten Patient*innen in ihrem häuslichen Umfeld und Pflegeheimpatient*innen im Rahmen von Hausbesuchen, und die Praxis veranstaltet regelmäßig Qualitätszirkel zur klinischen und wissenschaftlichen Fortbildung der Hausärzt*innen der Region. Für das PJ-Tertial wurde mir im Rahmen eines von der Stiftung Perspektive Hausarzt initiierten Mobilitätskonzeptes ein Auto („PJ-Mobil“) bereitgestellt. Außerdem förderte die Stiftung Perspektive Hausarzt mein Tertial mit einem Fahrtkostenzuschuss in Höhe von 200 Euro, und die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg gewährte mir ein Stipendium im Rahmen des Förderprogramms „Ziel und Zukunft“ in Höhe von 744 Euro pro Monat.


Obwohl ich als PJ-Student in die Praxis kam, durfte ich bereits nach der Einarbeitung, in der ich mit den Ärzt*innen mitlief, ihre Arbeit verfolgte, Fragen stellen konnte und in das digitale Dokumentations- und Organisationssystem eingearbeitet wurde, eigenständig Verantwortung für die Patientenversorgung in einem eigenen Sprechstundenzimmer übernehmen und agierte so im Wesentlichen in der Rolle eines Arztes in Weiterbildung. Eine bessere Vorbereitung auf den Beruf als Arzt/Ärztin gibt es schlichtweg nicht! Meine tagtäglichen Aufgaben umfassten die Erhebung einer präzisen und ausführlichen Anamnese, die gründliche und gezielte körperliche Untersuchung, die medizinische Dokumentation, die Patientenberatung und -betreuung hinsichtlich Prävention und gesunder Lebensführung sowie die evidenzbasierte Entscheidung über weitere Diagnostik und Therapie inklusive die Anfertigung von Rezepten, Überweisungen, Krankenhauseinweisungen, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und anderen ärztlichen Attesten sowie die Veranlassung von Verlaufskontrollen und interdisziplinäre Rücksprache mit ärztlichen Kollegen der Notaufnahme des Universitätsklinikums Tübingen. Ich führte auch eigenverantwortlich Ultraschalluntersuchungen, Blutentnahmen, Wundversorgungen und Impfungen durch und interpretierte EKGs, Spirometrie- und Laborbefunde, übernahm die Nachsorge von Patient*innen nach der Entlassung von stationären Aufenthalten, veranlasste Frühererekennungsuntersuchungen und assistierte bei kleineren chirurgischen Eingriffen. Darüber hinaus behandelte ich Patient*innen im Rahmen von Disease-Management-Programmen und Gesundheits-Check-ups, übernahm eigenständig Hausbesuche und nahm an Leichenschauen teil.


Fachlich lernte ich während meines PJ-Tertials in der Hausarztpraxis Neustetten unheimlich viel. Nicht nur konnte ich erfahren, was "erlebte Anamnese" wirklich bedeutet und welch riesigen Vorteil Hausärzt*innen gegenüber anderen Ärzt*innen (insbesondere der Krankenhausversorgung) haben: Die Beschwerden eines Patienten vor dem Hintergrund seiner Persönlichkeit und seiner biopsychosozialen Herkunft zu beurteilen, erlaubt präzisere diagnostische und therapeutische Entscheidungen, eine bessere Gesprächsführung und somit auch eine effektivere Behandlung als ohne diese Kenntnisse. Auch haben Hausärzt*innen auf dem Land ein extrem breites Patientenspektrum und sind in aller Regel die Erstbehandler, denen meist keine Vorbefunde vorliegen. Dadurch sind ein fundiertes Fachwissen, ausgezeichnete Kenntnisse der Pathophysiologie und der aktuellen Leitlinien, ein strukturiertes differenzialdiagnostisches Vorgehen, viel Eigeninitiative, kritisches Denken und eine souveräne Beherrschung basisdiagnostischer Maßnahmen wie Sonographie und EKG unabdingbar, um aus dem hausärztlichen Spektrum diejenigen Patient*innen zu identifizieren, die einer weiterführenden Behandlung bedürfen. Beispielsweise kam einmal eine pädiatrische Patientin zu mir in die Sprechstunde, die aufgrund von chronischer Urtikaria, einem Angioödem und Ödemen der Extremitäten schon bei einer Vielzahl an Ärzt*Innen im In- und Ausland in frustraner Behandlung gewesen war. Nur durch ein unvoreingenommenes, sorgfältiges und exaktes Vorgehen, ohne dabei das große Ganze aus den Augen zu verlieren, konnte ich erkennen, dass die Ödeme der Extremitäten nicht wie die übrigen Symptome auf eine allergische Genese zurückgeführt werden konnten, sodass ich einen Urinstatus und gezielte Laboruntersuchungen anordnete. Und tatsächlich zeigte sich eine Proteinurie, eine Hypoproteinämie, eine Hypercholesterinämie und Hypertriglyzeridämie, sodass ich sofort die Verdachtsdiagnose ‘Nephrotisches Syndrom’ stellen und die Patientin umgehend in die nephrologische Notaufnahme der Kinderklinik Tübingen einweise konnte. Dort bestätigten die Kollegen den Verdacht und stellten die Indikation zur stationären Nierenbiopsie.


Und auch persönlich hat mich das PJ-Tertial in der Hausarztpraxis Neustetten extrem bereichert. Sowohl die Lehrärzt*innen als auch die Medizinischen Fachangestelltinnen haben vorgelebt, was wertschätzende und respektvolle, aber zugleich offene und ehrliche Kommunikation bedeuten und wie wichtig dies für eine harmonische Stimmung und eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit ist. Auch wenn das eigene Fachwissen und die praktischen Fähigkeiten durchaus ein selbstbewusstes und entschlossenes Auftreten erlauben, ist es meiner Meinung nach unabdinglich, stets bescheiden zu bleiben, sich der hohen Eigenverantwortung bewusst zu sein, aktiv Feedback zu suchen und nie zu zögern, Kolleg*innen hinzuziehen, Fragen zu stellen und Patient*innen vorzustellen, wenn man sich mit einem Fall unsicher ist. Schließlich ist die Gesundheit der Patienten immer die oberste Priorität. Professionalität, Zuverlässigkeit und Kollegialität als Teamplayer waren essenziell für den Erfolg der Arbeit. Und auch in der Patientenbehandlung waren eine zugewandte und herzliche Art sowie ein wertschätzender, aufrichtiger und empathischer Umgang entscheidend für das Therapie-Outcome, die allgemeine Therapieadhärenz und die Patientenzufriedenheit – insbesondere bei Patient*innen mit psychiatrischen und psychosomatischen Krankheitsbildern. Ich hatte auch das Gefühl, dass mir meine Famulatur in Tansania, mein Studium an der Brown University, USA sowie mein Studienaufenthalt am BIDMC, Harvard Medical School, USA und meine frühere ehrenamtliche Tätigkeit in einer Flüchtlingsunterkunft sehr geholfen haben, ein Gespür für zwischenmenschliche Ebenen der Arzt-Patienten-Beziehung zu entwickeln, mich auf unterschiedliche Patiententypen einzustellen und interkulturelle Hürden beispielsweise in der Behandlung Geflüchteter zu überwinden. Ich kann es daher jedem*r Studierenden wärmestens ans Herz legen, in Vorbereitung auf den Beruf als Mediziner*in, bereits während des Studiums entsprechende Erfahrungen im Aus- und Inland zu sammeln, die über den Tellerrand der Medizin hinausgehen.


Zusammenfassend kann ich es jedem*r Mediziner*in nur empfehlen, einen Teil seiner Laufbahn in einer allgemeinmedizinischen Praxis zu verbringen. Einen umfassenden Einblick in das breite Spektrum hausärztlicher Tätigkeiten zu erhalten, die eigene diagnostische und therapeutische Expertise auszubauen und den Umgang mit Patient*innen zu verbessern ist meiner Meinung nach von grundlegender Bedeutung für eine ganzheitliche Patientenversorgung – egal in welcher Fachrichtung. Medizinisch und persönlich hat mich das PJ-Tertial in der Hausarztpraxis Neustetten extrem weitergebracht. Das unglaubliche Engagement und das große Vertrauen der Lehrärzt*innen und des gesamten Teams haben meine Erwartungen übertroffen und mich mit tiefer Dankbarkeit erfüllt. Auch der Stiftung Perspektive Hausarzt und der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg danke ich sehr herzlich für die großzügige Förderung meines PJ-Tertials.


 

Zum Autor


Josef B. T. Tran wurde 1998 in Erlangen geboren und wuchs überwiegend in der Region Heidelberg auf. Während seines Medizinstudiums an der Eberhard Karls Universität Tübingen, das derzeit mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert wird (davor: Konrad-Adenauer-Stiftung), absolvierte er mehrere Auslandsaufenthalte, unter anderem als DAAD-Vollstipendiat ein Semester an der Warren Alpert Medical School der Brown-University, USA und einen mehrwöchigen Aufenthalt in der Division of Gastroenterology and Hepatology, BIDMC, Harvard Medical School, USA. Das Erste und Zweite Staatsexamen schloss er jeweils mit der Note 1,0 ab. Derzeit befindet er sich im Praktischen Jahr, wobei sein Wahltertial in der Allgemeinmedizin durch die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg und durch die Stiftung Perspektive Hausarzt gefördert wurde. Aktuell arbeitet er als Unterassistent mit einem PROMOS-Stipendium in der Schweiz. Das letzte Tertial wird er mit einem Erasmus+ Scholarship in England absolvieren. Parallel führt er letzte Analysen zu seiner experimentellen Doktorarbeit am Institut für Tropenmedizin in Tübingen durch, die mit einem Stipendium des Interdisziplinären Zentrums für Klinische Forschung (IZKF) gefördert wurde.

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